Gruppe. Interaktion. Organisation. Zeitschrift für Angewandte Organisationspsychologie (GIO) - Call for Papers - Heft 2-26 - Expert/-innen und Organisation
Zum Hintergrund
Will man sich mit Fragestellungen zum Thema dieses Heftes beschäftigen, rücken mehrere Punkte in das Zentrum des Interesses.
Zunächst bietet sich eine generelle Herangehensweise an, die sich auf den gesellschaftlichen Diskurs rund um Expert/-innen und deren Kompetenzen konzentriert. Peter Drucker (1959/1996) hat den Begriff der „Knowledge Worker“ vor über 50 Jahren in die wissenschaftliche Diskussion eingeführt und auf die wachsende Bedeutung der Wissensarbeit in Organisationen und die Gesellschaft hingewiesen. Drucker verstand darunter hochqualifizierte Arbeitnehmer*innen, die theoretisches und analytisches Wissen anwenden, das sie durch wissenschaftlich fundierte Ausbildung erworben haben und deren Tätigkeit sich durch ein hohes Maß an Komplexität sowie Autonomie auszeichnet.
In unserer Wissens- und Informationsgesellschaft kommt Expertinnen und Experten unbestritten eine wachsende Bedeutung zu. Diese Entwicklung wird durch die Digitalisierung weiter beschleunigt, aber nicht nur in Industrie- und Dienstleistungsunternehmen, sondern auch in sozialen und staatlichen Organisationen nimmt die Bedeutung von Expertenwissen zu. So findet auch in Berufen z.B. der Sozialarbeit oder im Gesundheitswesen eine zunehmende Verwissenschaftlichung statt. Die wachsende Komplexität der modernen Wissensgesellschaft führt zu einem paradoxen Effekt: Zwar verfügen einzelne Individuen grundsätzlich über mehr Bildung und Wissen. Da aber parallel dazu das gesamtgesellschaftliche Wissen exponentiell anwächst, wissen einzelne immer weniger von der Welt, die sie umgibt. Sie fühlen sich vielfach überfordert und erleben eine wachsende Expertenmacht als Kränkung der individuellen Wissenssouveränität (Expertokratie). Immer häufiger sehen sich Experten/-innen daher Angriffen auf ihre Integrität ausgesetzt (Reed/Reed 2024). Politisch motivierte Akteure untergraben gezielt ihre Vertrauenswürdigkeit, was zu Misstrauen und Ressentiments gegenüber Experten/-innen führt – ein Phänomen, das während der COVID-19-Pandemie besonders deutlich wurde. Parallel dazu wurden durch die rasante Entwicklung der künstlichen Intelligenz Fragen rund um die Notwendigkeit für den Einsatz von Expert/-innen gestellt: Braucht man beispielsweise noch Kardiologen, wenn die Systeme eindeutigere bzw. genauere Analysen liefern? Kann KI nicht bessere, raschere und präzisere Vorhersagen über zukünftige wirtschaftliche Entwicklungen bieten als die Expert/-innen? Kommt es damit von der Seite neuer Technologien zu einer Entwertung des Expertenwissens?
Der Einsatz von Expert/-innen in Organisationen wirft zudem die Frage auf, wie Expertenwissen in Organisationen genützt werden kann, aber auch wo sich Grenzen zeigen. Betrachtet man den wachsenden Markt an Beratungsdienstleitungen wird deutlich, dass einzelne Expert/-innen zur Bearbeitung punktueller Fragen und Problemstellungen in Organisationen herangezogen werden, z.B. Spezialist/-innen für Organisationsentwicklung, Fachleute für Finanzfragen, Experten für rechtliche Fragestellungen, etc. Diese können extern für bestimmte Themenstellungen angefragt werden, oder auch interne Mitglieder der Organisation sein. Wie dies Mintzberg (1980) im Anschluss an die von Drucker initiierte Diskussion herausgearbeitet hat, bringt der Fokus auf Expertenorganisationen einige Besonderheiten mit sich. In solchen Expertenorganisationen sind hochqualifizierte Spezialisten tätig, die ihr spezialisiertes Wissen auf wechselnde, nicht routinierte Problemstellungen anwenden (Rybnicek et al. 2016: 228f). Das Wissen und die Kompetenzen ihrer Expertinnen und Experten stellen die wichtigste Ressource für die Leistungsfähigkeit der gesamten Organisation dar. Man findet Beispiele dafür in Krankenhäusern, Beratungsunternehmen, bei Verbänden und NGO, in Forschung und Entwicklung, an Hochschulen und auch in Schulen.
Expertenwissen und Organisation sind in engem Zusammenhang zu sehen. Allerdings zeigen sich einige Herausforderungen, die sich an der Schnittstelle zwischen Person und Organisation ergeben. Expertenwissen ist geprägt vom jeweiligen professionellen Umfeld, in dem die Protagonisten ihr Wissen erarbeiten, erweitern und perfektionieren. Nicht selten sind derartige Professionsgemeinschaften von bestimmten Standards geprägt, an die sich die Mitglieder (also die Expert/-innen) halten sollen. Gleichzeitig sehen sich die Expert/-innen durch die Organisationen, für die sie arbeiten, gefordert „auch mal pragmatisch“ vorzugehen (ein schönes Beispiel dafür wäre die Aufforderung an Juristen, die in einer großen Organisation arbeiten, hier und da mal „ein Auge zudrücken“ oder einfach nur „einen guten Weg finden“ sollen).
Ein bestimmtes Expertenwissen zu haben, bedeutet damit noch lange nicht, dass dieses in der Organisation auch unhinterfragt akzeptiert wird, geschweige denn dass deren Expertise in die Entscheidungen der Organisation Eingang findet. Nicht selten müssen Expert/-innen feststellen, dass sie nur bedingte Möglichkeiten und Chancen finden, entsprechenden Einfluss in der Organisation zu haben. Wie positionieren sie sich gegenüber Generalisten und wie können unterschiedliche Wissensthemen in Einklang gebracht werden? Wie kann beispielsweise in einem Veränderungsprozess das spezielle Wissen zu strategischen und fachlichen Fragestellungen mit jenem in Einklang gebracht werden, das sich mit sozialen Phänomenen beschäftigt?
Um optimal arbeiten zu können, müssen Expertinnen und Experten über ausreichende Autonomie bei der Entscheidung über Methoden, Ressourcen und Prozesse verfügen. Sie fühlen sich stark mit ihrer Profession verbunden. Experten schätzen daher die Bedeutung von Expertise höher ein als Macht über hierarchischen Rang (Mintzberg 1980). Daher stellt sich unweigerlich die Frage nach Führung von Expert/-innen in Organisationen: Was muss bei der Führung von Expert/-innen berücksichtigt werden? Ist ein hervorragender Spezialist für Herzchirurgie auch eine gute Führungsperson im Krankenhaus? Und schließlich: wie können Expert/-innen erforderliche Führungsfunktionen (zum Beispiel in der Projektarbeit oder im Produktionsprozess) ausüben?
Schließlich wird die aktive Arbeit von Expert/-innen in Kleinsystemen wie Gruppen und Teams angesichts der wachsenden Komplexität von Aufgaben und Projekten immer wichtiger. Oft werden Expert/-innen bei Bedarf temporär in Teams eingebunden. Dabei stellt sich die Frage, wie deren Expertise auf die Teamdynamik Einfluss nimmt – bzw. welche neuen dynamischen Phänomene auftreten. Nicht selten wird Expertise derart erhöht, dass sie kaum hinterfragt übernommen wird (und somit die Verantwortung für den Ausgang ausschließlich auf die Experten übertragen wird). Oder die Expertise wird nur pro forma eingeholt, das Team ignoriert die Expertise und entscheidet selbst. In andere Konstellationen werden Expert/-innen mit unterschiedlichem Wissens- und Kompetenzhintergrund in multidisziplinäre Teams entsendet (z.B. im Krankenhaus Ärztinnen, Pflege, Administration). Wie kommen multidisziplinäre Teams mit den damit verbundenen Komplementaritäten klar? Welche Themen stellen sich diesen Teams sonst noch? Und schließlich gibt es Teams von Expert/-innen, die über ein gleiches bzw. sehr ähnliches Wissensspektrum verfügen, beispielsweise Beratungsteams, Teams von Anwälten, Ärztinnen im Operationssaal, etc. Welche Auswirkungen hat die gemeinsam geteilte Expertise auf die Zusammenarbeit?
Zum Themenspektrum der gewünschten Beiträge
Das Ziel des Themenheftes 02/2026 ist es, aktuelle theoretische Ansätze, Forschungsergebnisse – quantitativ wie qualitativ – sowie vor einem theoretischen Hintergrund reflektierte Praxisbeispiele zum Thema „Expert/-innen und Organisation“ zu beleuchten, um den Diskurs zu erweitern. Das Themenheft möchte dazu Forschende, Praktiker/-innen sowie Führungskräfte, aber auch interne oder externe Expert/-innen sowie Berater/-innen ansprechen, die sich mit dem Thema auseinandersetzen.
In konzeptuellen Beiträgen, empirischen Studien oder theoretisch reflektierten Fallbeispielen können verschiedene Ebenen in den Blick genommen werden und sich dabei mit den folgenden (aber nicht ausschließlich auf diese beschränkte) Fragen beschäftigen
- Person: Welche Besonderheiten werden bei der Gestaltung der Rolle von Expert/-innen erforderlich? Wie werden Expert/-innen wirksam und wo erkennen sie ihre Grenzen? Wie gehen Expert/-innen mit den ihnen entgegengebrachten Widersprüchen um wie z.B. Vertrauen und Misstrauen, Akzeptanz und Nicht-Akzeptanz? Wie verändert sich durch Einsatz neuer Technologien (z.B. Digitalisierung, KI) die Arbeit von und mit Expert/-innen?
- Gruppen und Teams: Wie wirkt die Anwesenheit von einzelnen Expert/-innen auf dynamische Prozesse innerhalb von Gruppen und Teams? Welche besonderen Merkmale werden bei Gruppen und Teams erkennbar, wenn diese vorwiegend aus Expert/-innen bestehen? Wie ist der Stand der Erkenntnisse zur Arbeit in und mit Expert/-innen-Teams?
- Organisation und Führung: Welche besonderen Herausforderungen werden beim Einsatz von Expert/-innen in Organisationen erkennbar - insbesondere was Fragen zu Führung betrifft? Welche Strategien setzen Organisationen beim Einsatz von Expert/-innen ein? Was zeichnet Expertenorganisationen besonders aus und welche Unterschiede gibt es zwischen Expertenorganisationen?
- Gesellschaft: Wie wird sich die Akzeptanz von Expertenwissen auf gesellschaftlicher Ebene entwickeln? Wie haben sich die Konzepte von „Experten“ und „Expertise“ im Laufe der Zeit verändert, wenn man die Veränderungen in der Gesellschaft und ihre soziale Legitimität berücksichtigt? In welchen gesellschaftlichen und wirtschaftlichen Bereichen wird die Bedeutung von Expert*innen weiter zunehmen?
Umfang der Beiträge und Zeitplan
Theoretische und empirische Originalbeiträge sollten einen Umfang von 35.000 Zeichen (inkl. Leerzeichen und Literaturangaben; exkl. Abbildungen und Tabellen) nicht überschreiten. Fallanalysen bewegen sich in einer Länge von 10.000 bis 20.000 Zeichen.
Wenn Sie einen Beitrag einreichen möchten, bekunden Sie Ihr generelles Interesse durch eine Kurzbeschreibung des Beitrages von max. 500 Wörtern bis zum 15.07.2025 (gern früher) an die beiden Herausgeber des Heftes.
Die Einreichung Ihres Beitrags ist dann bis zum 31.10.2025 (gern auch früher) möglich. Daran schließt sich ein Peer-Review- und Überarbeitungsprozess an, der zu Veränderungswünschen bis hin zur Ablehnung des Beitrags führen kann. Die Veröffentlichung ist in Heft 2/2026 geplant.
Neben themenspezifischen Beiträgen sind offene Beiträge in dem Schwerpunktheft erwünscht. Eine ausführlichere Darstellung des Profils der Zeitschrift sowie Hinweise zur Manuskriptgestaltung finden Sie auf der Seite: www.springer.com/11612.
Die Zeitschrift
Die Zeitschrift Gruppe. Interaktion. Organisation. Zeitschrift für Angewandte Organisationspsychologie (GIO) erscheint seit 2016 unter dem neuen Namen und mit neuen Herausgebern als Nachfolger der Zeitschrift „Gruppendynamik“ im Springer-Verlag. Nähere Informationen finden Sie unter: springer.com/11612
Kontakt
Bei Interesse und Fragen wenden Sie sich bitte gern an die beiden Herausgeber des Heftes:
Dr. Gerhard P. Krejci: krejci@simon-weber.de und/oder
Prof. Dr. Hans Joachim Gergs: hansjoachim.gergs@gfeo.eu
Literatur
- Drucker, P. F. (1996). Landmarks of tomorrow. A report on the new „post-modern“ world. New Brunswick: Transaction Publishers. (Originalarbeit erschienen 1959)
- Mintzberg, H. (1980). Structure in 5’s: A synthesis of the research on organization design. Management Science, 26(3), 322–34
- Reed, C., Reed, M. (2024): Enough of Experts. Expert Authority in Crisis. Berlin/Boston: De Gruyter
- Rybnicek, R. et al. (2016): Führung in Expertenorganisationen. In J. Felfe, R. van Dick (Hrsg.), Handbuch Mitarbeiterführung: Wirtschaftspsychologisches Praxiswissen für Fach- und Führungskräfte. Berlin: Springer-Verlag.