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Publizistik

Vierteljahreshefte für Kommunikationsforschung

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Publizistik - Call-for-Papers: Studien zur Fach- und Fachzeitschriftengeschichte der „Publizistik“

1945 existierten in Deutschland und in von Deutschland besetzten Ländern mindestens 17 Institute und Einrichtungen für Zeitungswissenschaft  (Löblich 2010, S. 20). Die Zeitungswissenschaft wurde nach 1933 zur institutionell prosperierenden Disziplin, die sich über den Deutschen Zeitungswissenschaftlichen Verband (DZV) mit Walther Heide an seiner Spitze selbst gleichschaltete; zugleich flohen und emigrierten viele jüngere Wissenschaftler*innen (Kutsch 1987; Averbeck 2001; Bohrmann 2009; Kutsch 2010). In Anbetracht der „tiefen NS-Verstrickung der Zeitungswissenschaft“ (Koenen und Sanko 2016, S. 119), die noch immer einer „Spirale des Schweigens“ (Duchkowitsch et al. 2004) unterliegt, wurde nach der Befreiung vom Nationalsozialismus in der Bundesrepublik lediglich eine überschaubare Zahl von Instituten für Publizistik an den Universitäten (wieder)begründet. Zu nennen sind neben München (dort als Institut für Zeitungswissenschaft), Münster, Berlin (FU), nur kurzzeitig Heidelberg (dann profitierte dort die Soziologie), etwas verzögert Nürnberg sowie eine Abteilung für Publizistik an der Hochschule in Wilhemshaven. Meist waren dies in der Frühphase ,Ein-Mann-Institute‘. In der DDR wurde Leipzig mit der Journalistik zum zentralen und vorerst einzigen Standort des Fachs aufgebaut (vgl. zur BRD Bohrmann 2010; Löblich 2010, S. 20–26, Koenen und Sanko 2016, S. 118–122; für Leipzig insbesondere Koenen 2016).
Institutionell und personell eng miteinander verflochten waren im Westteil der Aufbau der Universitätsinstitute, der Fachgesellschaften (zunächst als DGPuZ 1963, Deutsche Gesellschaft für Publizistik und Zeitungswissenschaft) und der Fachzeitschrift Publizistik bereits 1956. Ein kleines Netzwerk fast ausschließlich männlicher Publizistikwissenschaftler mit Emil Dovifat, Karl d’Ester, Walter Hagemann, Wilmont Haacke, Franz Ronneberger und Hans Amandus Münster (Münster nicht mehr als Professor, sondern u. a. als Mitarbeiter in der Publizistik für das Sachgebiet Werbung; vgl. dazu Kutsch 2006), von denen einige bereits während des Nationalsozialismus forschten und lehrten, bestimmte die Frühgeschichte des Faches mit.1 Diese noch weitgehend unerforschte Konstellation prägte die Publizistikwissenschaft bis in die 1960er-Jahre, sie stellte die Weichen für das Fachverständnis. Dies geschah auch in Abgrenzung zur damals bereits in der Deutschen Gesellschaft für Kommunikationsforschung (DGKF) von u. a. Erich Feldmann organisierten Filmwissenschaft, die später von Alphons Silbermann zur Massenkommunikationsforschung erweitert wurde (vgl. Averbeck-Lietz 2013, in Vorbereitung). Das Verhältnis zu benachbarten Disziplinen wie der Soziologie (die u. a. mit Henk Prakke in Münster im Fach selbst präsent war; vgl. Klein 2006), definierte gewünschte (Massenkommunikation, politische Publizistik, Journalismus) und marginalisierte Forschungsgegenstände (Unterhaltung, Film, Tele- und - mit wenigen Ausnahmen wie Prakke - interpersonale Kommunikation), die Studienpläne und Prüfungsordnungen, aber auch die Berufungspolitik für die Nachfolgegeneration (vgl. u. a. Löblich 2010 zur „publizistikwissenschaftlichen Wende“ und Scheu 2012 zu „Adornos Erben in der Kommunikationswissenschaft“, beide thematisieren Ausgrenzungsphänomene).

Bislang erscheint diese Frühphase der Fachentwicklung nach dem Zweiten Weltkrieg nur unzureichend erforscht: Es liegen zwar Aufsätze insbesondere von Hans Bohrmann und Arnulf Kutsch seit den 1970er-Jahren sowie monografische Studien (neben den oben bereits belegten auch Wiedemann 2012), Interviewbände (Kutsch und Pöttker 1997; Meyen und Löblich 2004), teils auch Schriften aus Anlass von Institutsjubiläen sowie übergreifendere Auseinandersetzungen mit der NS-Geschichte des Faches vor (vgl. Duchkowitsch et al. 2004; Pöttker 2007) vor. Eine umfassendere und detailliertere Analyse des Akteursnetzwerkes, seiner Kommunikation, Strategien und Handlungsweisen, der historischen Kontinuitäten und Umbrüche, steht jedoch aus. Wir wissen auch nur wenig über die Beziehungen zwischen verschiedenen Fachzeitschriften und Fachgesellschaften oder den anderen Disziplinen. Die eigene Fachgeschichte bleibt damit an vielen Stellen intransparent, womöglich auch, weil nicht alle Protagonisten ein Interesse an solchen Untersuchungen gehabt haben dürften (vgl. auch Duchkowitsch et al. 2004; Bohrmann 2010).

Im Koblenzer Bundesarchiv (u. a. Bestand B 107 „Fachzeitschrift Publizistik und DGPuK“) sowie im Dortmunder Institut für Zeitungswissenschaft (u. a. diverse Personennachlässe), und womöglich auch noch an vielen anderen Orten existieren umfassende Aktenbestände aus dieser (Wieder-)Gründungsphase des Fachs sowohl zur DGPuZ/DGPuK als auch zur Fachzeitschrift Publizistik, die einer systematischen wissenschaftlichen Erschließung lohnen. Aus der Sicht der Herausgeber*innen der Publizistik ist eine Auseinandersetzung mit der eigenen Fachgeschichte, insbesondere der Frühphase nach 1945, längst überfällig.

Aus diesem Grund fördert die Publizistik Fallstudien zur Fach- und Fachzeitschriftengeschichte. Diese können Aspekte der Fachgeschichte von 1945 bis in die 1970er-Jahre, Akteure und das kommunikationswissenschaftliche ,Denkkollektiv‘ bzw. die Erinnerungsgemeinschaft der Kommunikationswissenschaft, fachpolitische Konflikte, Institutionalisierungsprozesse (wie die Gründung von Fachgesellschaft und Fachzeitschrift) u. v. m. adressieren. Ein komplementäres Förder- und Unterstützungsangebot hat die DGPuK auf den Weg gebracht.
Ein begründeter formloser Antrag auf finanzielle Unterstützung zur (Teil-)Finan-zierung von Kurzstipendien und Reisekostenzuschüssen kann laufend elektronisch über die Redaktion eingereicht werden (redaktion@publizistik.org (this opens in a new tab)). Dieser soll das Anliegen (Stand der Forschung, Forschungslücken, Forschungsfragen, Methodik und Vorgehen) knapp skizzieren (max. 3 Seiten) und zusätzlich einen Zeit-, Arbeits- und Finanzplan enthalten. Die Prüfung erfolgt durch die Untenstehenden innerhalb von sechs Wochen nach Einreichung.


Stefanie Averbeck-Lietz, Klaus Beck, Karin Boczek, Emese Domahidi, Ines Engelmann, Christian Pentzold, Manuel Puppis


Literatur

Averbeck, S. (2001). Die Emigration der deutschen Zeitungswissenschaft und der Verlust sozialwissenschaftlicher Perspektiven. Publizistik, 46(1), 1–19.

Averbeck-Lietz, S. (2013). Deutsche Gesellschaft für Kommunikationsforschung (DGKF). In G. Bentele, H. B. Brosius & O. Jarren (Hrsg.), Lexikon der Kommunikations- und Medienwissenschaft (2. Aufl. S. 54). Wiesbaden: Springer VS.

Averbeck-Lietz, S. (2025). Alphons Silberman on Communication(s) zu ihrem 75. Geburtstag. Communi­cation Research, in Vorbereitung, in Sondernummer.

Bohrmann, H. (2009). Wie drei Freunde [Walther Heide, Erich Schulz und Karl d’Ester] die Kontroverse über den Gegenstand und die Methoden des Faches zu ihren Gunsten entschieden. Ein Beitrag zum Institutionalisierungsprozess der Zeitungswissenschaf. In S. Averbeck-Lietz, P. Klein & M. Meyen (Hrsg.), Historische und Systematische Kommunikationswissenschaft. Festschrift für Arnulf Kutsch (S. 137–156). Bremen: edition lumière.

Bohrmann, H. (2010). Das Jahr 1945 als personeller und institutioneller Wendepunkt von der Zeitungs- zur Publizistikwissenschaft. In T. Eberwein & D. Müller (Hrsg.), Journalismus und Öffentlichkeit. Eine Profession und ihr gesellschaftlicher Auftrag. Festschrift für Horst Pöttker (S. 483–506). Wiesbaden: Springer VS.

Duchkowitsch, W., Hausjell, F., & Semrad, B. (Hrsg.). (2004). Die Spirale des Schweigens. Zum Umgang mit der nationalsozialistischen Zeitungswissenschaft. Münster: LIT.

Klein, P. (2006). Henk Prakke und die funktionale Publizistikwissenschaft. Münster: LIT.

Koenen, E. (Hrsg.). (2016). Die Entdeckung der Zeitungswissenschaft. 100 Jahre kommunikationswissenschaftliche Fachtradition in Leipzig: Von der Zeitungskunde zur Kommunikations- und Medienwis-senschaft. Köln: Herbert von Halem.

Koenen, E., & Sanko, C. (2016). Die Mediengesellschaft und ihre Wissenschaft vom Wandel. Disziplinäre Genese und Wandelprozess der Kommunikationswissenschaft in Deutschland 1945–2015. In S. Averbeck-Lietz (Hrsg.), Kommunikationswissenschaft im internationalen Vergleich (S. 113–160). Wiesbaden: VS.

Kutsch, A. (Hrsg.). (1987). Zeitungswissenschaftler im Dritten Reich. Sieben biographische Studien. Köln: Ertay Hayit.

Kutsch, A. (2006). Verdrängte Vergangenheit. Darstellungen und Deutungen der Fachgeschichte im ,Dritten Reich‘ in den Personalien der Publizistik. In C. Holtz-Bacha, A. Kutsch, W. R. Langenbucher & K. Schönbach (Hrsg.), 50 Jahre Publizistik (S. 73–112). Wiesbaden: Springer VS.

Kutsch, A. (2010). Die Entstehung des Deutschen Zeitungswissenschaftlichen Verbandes. Jahrbuch für Kommunikationsgeschichte, 12, 121–144.

Kutsch, A., & Pöttker, H. (Hrsg.). (1997). Kommunikationswissenschaft autobiografisch. Zur Entwicklung einer Wissenschaft in Deutschland. Wiesbaden: Westdeutscher Verlag.

Löblich, M. (2010). Die empirisch-sozialwissenschaftliche Wende in der Publizistik- und Kommunikationswissenschaft. Köln: Herbert von Halem.

Meyen, M., & Löblich, M. (Hrsg.). (2004). “Ich habe dieses Fach erfunden“. Wie die Kommunikations-wissenschaft an die deutschsprachigen Universitäten kam. 19 biografische Interviews. Köln: Herbert von Halem.

Pöttker, H. (2007). Abgewehrte Vergangenheit. Beiträge zur deutschen Erinnerung an den Nationalsozialismus. Köln: Herbert von Halem.

Scheu, A. (2012). Adornos Erben in der Kommunikationswissenschaft. Eine Verdrängungsgeschichte. Theorie und Geschichte der Kommunikationswissenschaft. Köln: Herbert von Halem.

Wiedemann, T. (2012). Walter Hagemann. Aufstieg und Fall eines politisch ambitionierten Journalisten und Publizistikwissenschaftlers. Köln: Herbert von Halem.


1 Vgl. die Unterschriften auf der Gründungsakte der Deutschen Gesellschaft für Publizistik- und Zeitungswissenschaft (DGPuZ) unter https://www.dgpuk.de/de/geschichte.html (this opens in a new tab) (Zugegriffen 16.07.2023).


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